Finnland zum vierten Mal Glücksweltmeister

Meine Bloggerkollegin Tarja hat bereits einen so guten Blog über das Thema geschrieben, dass ich fast nichts hinzuzufügen habe. Schaut euch an: https://tarjasblog.de/Finnland/zum-4-mal-finnland-das-gluecklichste-land/

Dieses wäre aber nicht mein eigener Blog, wenn ich nicht doch meinen eigenen Senf hinzufügen würde.

Durch die anhaltenden Spitzenergebnisse Finnlands – und die beständige Weigerung vieler Finnen, diese anzuerkennen – habe ich angefangen, mir eingehend Gedanken über die Gründe für dieses Ergebnis zu machen. Und bin zu einem Grund gekommen, der möglicherweise zu Kontroversen führen wird. Ich glaube nämlich, dass die Finnen sich in ganz bestimmten Lebensbereichen mit weniger zufrieden geben als im Durchschnitt die Deutschen, Österreicher oder Schweizer. Und werde auch darlegen, wie ich zu dieser Begründung komme. Bevor aber hier jemand vorschnell Schlüsse zieht: Selbstverständlich handelt es sich nur um EINE einzige Glückskomponente, in einem Potpourri aus vielen Gründen.

Eine Binsenweisheit besagt, dass man dann zufriedener ist, wenn die eigenen Erwartungen nicht zu hoch geschraubt sind. Hier zitiere ich ein Beispiel von https://zeitzuleben.de/aus-der-gehirnforschung-vergleiche-mit-anderen/, das anschaulich macht, auf was ich hinauswill:

„Bekommt jemand für einen Job einen Stundenlohn von 8 € angeboten und er hat vorher für 5 € die Stunde gearbeitet, so vergibt sein Gehirn für die 8 € einen hohen Belohnungswert. Er fühlt sich dann wohl und freut sich über die 8 €.

Bekam diese Person vorher jedoch 12 €, vergibt das Belohnungssystem für die 8 € eine niedrigere Punktzahl als für die 12 € zuvor. Das führt dann zu schlechten Gefühlen, z. B. Enttäuschung und Frustration.

Je nachdem, womit man die 8 € also vergleicht, bewertet das Gehirn die 8 € unterschiedlich. Und das führt dann zu sehr verschiedenen Gefühlen, wie z. B. Freude und Hochgefühl in dem einen Fall und Enttäuschung und Frust in dem anderen Fall.“

Blick vom Dom Richtung Senatsplatz (Foto: Mit freundlicher Genehmigung von H. Jäschke)

Wie kann ich das nun auf die Lage in Finnland übertragen?

Noch vor kurzem war Finnland ein Agrarland (dazu siehe auch mein Blog https://claudiashelsinki.com/2021/01/15/7-zeichen-an-denen-man-merkt-dass-finnland-erst-nach-dem-zweiten-weltkrieg-industrialisiert-wurde/). Noch in den 1960er und 1970er Jahren war es ein Auswandererland, das viele Richtung Schweden und Deutschland verlassen haben, weil die eigene Wirtschaftslage nicht gerade rosig aussah. Vergleicht man sich daher mit der Lage früher, dann schneidet man in Finnland so gut wie immer besser ab als zuvor, auf jeden Fall besser als die eigenen Eltern. Das trifft vor allem auf die ältere Generation zu, deren Eltern die unmittelbare Nachkriegsgeneration darstellt. Weniger für die Jüngeren, die fangen auch hier an, zu meckern.

Das Zufriedener sein mit weniger trifft jedoch nur auf ganz bestimmte Lebensbereiche zu, beileibe nicht für alle. So gibt sich kein Finne zufrieden mit der Qualität der deutschen Internetversorgung (siehe mein Blog https://claudiashelsinki.com/2019/09/14/zukunfts-land-finnland/ )!

Aus meiner Erfahrung sind diese Bereiche die medizinische Versorgung und die Größe der Wohnung. Letzteres ist ein eigenes Thema und werde ich in einem eigenen Blog behandeln.

Weil man in der Regel nichts anderes kennengelernt hat, begnügt man sich mit der Tatsache, dass man sich mit dem Arzt oder der Ärztin zufrieden geben muss, die einem vorgesetzt wird – es gibt KEINE freie Arztwahl in Finnland. Man kann auch nicht einfach zum Facharzt marschieren, sondern muss zuerst zum Allgemeinarzt, der entscheidet, ob der Fall wichtig genug ist, um eine Überweisung zu rechtfertigen. So kann einem mit Asthma in Finnland passieren, dass man über sieben Jahre hinweg nicht ein einziges Mal den Lungenarzt sieht. Hat man über die Arbeit die betriebliche Gesundheitsversorgung, dann bedeutet das hier, dass die Facharztbesuche zahlenmäßig pro Jahr gedeckelt sind. Bei den meisten Arbeitgebern (so zum Beispiel meine Fachhochschule) gibt es maximal ein bis zwei Facharztbesuche pro Jahr, der zweite Besuch kann dann ein Folgebesuch beim selben Facharzt sein. Am Anfang des Jahres kann man sich also überlegen, ob man dieses Jahr den Augenarzt in Anspruch nimmt (weil zum Beispiel beim Optiker zu hoher Augendruck gemessen wurde) oder ob man lieber den Hautarzt nimmt, weil man etwa einen Leberfleck entdeckt hat, der sich verändert hat. Beides gleichzeitig gibt es nicht, oder halt eben nur auf eigene Kosten.

Auch die Physiotherapie ist gedeckelt: Es gibt maximal fünf Besuche beim Physiotherapeuten pro Jahr.

Und wer das Rentenalter erreicht hat, kann vom Physiotherapeuten nur träumen. Das finnische System ist ganz stark darauf ausgerichtet, die Erhaltung und Zurückgewinnung der Arbeitsfähigkeit zu fördern. Steht man dem Arbeitsleben nicht mehr zur Verfügung, erlischt das Systeminteresse.

Und die Liste geht weiter: Vorsorgeuntersuchungen werden in wesentlich geringerem Umfang bezahlt als in Mitteleuropa. Ein Zahncheck etwa nur alle zwei Jahre, und auch dann werden nur circa 11 Euro erstattet. Den Papa-Test für Frauen gibt es nur alle fünf Jahre, im Alter zwischen 30 und 60. Nach dem 60. Lebensjahr muss man selbst dafür bezahlen. Den Gynäkologen muss man in der Regel auch komplett selbst bezahlen (Kosten von circa 250 Euro), außer, es wird bei privat finanzierten Untersuchungen etwas Besorgniserregendes entdeckt.

Der Besuch beim Arzt des Gesundheitszentrums kostet in der Regel knapp 20 Euro, im Augenblick in meiner Wohngemeinde 16,90 Euro. Ist man zwischen 20.00 und 6.00 Uhr in der Notfallaufnahme unterwegs, dann kostet es fast das Doppelte, 32,70 Euro.

Die Zahnversorgung ist nur für Kinder und Jugendliche unter 18 kostenlos, als Erwachsener wird man abgewimmelt und durch lange Wartezeiten abgeschreckt. Hat man ein Problem, wie etwa einen schmerzenden Zahn, dann muss man die privaten Zahnärzte in Anspruch nehmen, weil man ja nicht zwei Wochen mit Schmerzen herumlaufen kann oder will. Die Versorgung der Gemeinde gibt es in diesem Gebiet daher in der Hauptsache nur für Mindestrentner, Obdachlose und Studierende. Alle anderen versorgen ihre Zähne privat.

Für alle Medikamente gibt es nach einer Selbstzahlung von 50 Euro am Anfang eines jeden Kalenderjahres eine prozentmäßige eigene Zahlung. Man merkt also immer, wie teuer die vom Arzt verschriebenen Medikamente sind. Erst wenn die Höchstsumme von 580 Euro erreicht wird, bezahlt man für alle folgenden Medikamente eine einheitliche Rezeptgebühr von 2,50 Euro. Außerdem sorgt eine Sonderregelung dafür, dass bei chronischen Krankheiten man zunächst im ersten Jahr der Erkrankung weniger Zuzahlungen erhält, erst, wenn der Arzt nach einem Jahr Erkrankung ein eigenes Gutachten erstellt und geprüft wurde, ob man wirklich auch die Medikamente in der vom Arzt verordneten Menge in der Apotheke gekauft hat, rutscht man in die höhere Erstattungsklasse.

Deutsche vergleichen dann oft mit einem Niveau der Gesundheitsversorgung, das man schon hinter sich gelassen hat, zum Beispiel die Zeiten, als es noch ohne Zuzahlung einen Arztbesuch gab. Hier gibt es also in der Erinnerung goldene Zeiten, mit den man vergleicht und sich ganz schnell schlecht fühlt – wir erinnern uns an die acht Euro Stundenlohn!

Dass an meiner Vermutung etwas dran ist, wird auch dadurch bestätigt, dass ich niemanden kenne, der sowohl das deutsche oder das österreichische Krankenversicherungssystem selbst als chronisch Kranker erlebt hat und der das finnische bevorzugen würde, wenn er auswählen könnte. Junge bzw. sehr gesunde Leute ohne chronische Krankheiten können hier einfach nicht mitreden, weil sie die Tücken eines Systems nicht erleben können, weil sie es einfach noch nie wirklich gebraucht haben.

In der Regel hat das alles keinen Einfluss auf den Besuch des deutschsprachigen Gastes in Finnland, er merkt nichts von den Schwächen des finnischen Systems. Die treffen normalerweise nur die Einheimischen. Nur wenn etwas schief geht, und dann am schlimmsten in Lappland. Weil es dort sein kann, dass die Anfahrt der Ambulanz schon mal über eine Stunde dauert, oder das nächste Gesundheitszentrum auch mal zwei Autostunden Fahrt entfernt sein kann. Auf einmal wird genau das, was man bei Lappland schätzt, nämlich die letzte Wildnis Europas zu sein, zu einem Handicap. Deswegen bin ich normalerweise auch froh, wenn wir bei einer Rundreise mit Gästen über 80 oder anderen Risikofällen Finnisch-Lappland verlassen und in Norwegisch-Lappland ankommen. Die Norweger sind durch ihre bessere finanzielle Lage viel besser ausgestattet und ein Notfall kann viel schneller versorgt werden (ja, alles schon passiert, aber in 14 Jahren bisher nur einmal!).

Hier sind wir in Norwegen. Auch ganz schön.

Aus den oben geschilderten Gründen möchte ich in meinem Bus bei einer Lapplandrundreise in Zukunft am liebsten nur Menschen haben, die gegen Corona geimpft sind oder eine Corona-Erkrankung hinter sich haben und dadurch immun sind.

Alle diese Zusammenhängen werden aber nur Menschen klar, die einen Vergleich ziehen können, weil sie in mehreren Ländern gelebt haben und in diesen auch das Gesundheitssystem in Anspruch genommen haben. In diesem einen Punkt wage ich zu sagen, dass die Finnen hier nur glücklich sind, weil sie nichts Besseres kennen.

PS Bei einigen vorhergegangen Blogs wurde ich in Kommentaren kritisiert, dass ich Finnland viel zu unkritisch gegenüberstehen würde. Ich hoffe, dass mit diesem Blog klar wird, dass dem nicht so ist. Da es einfach kein Paradies auf Erden gibt, ist selbstverständlich klar, dass jeder die Plus- und Minuspunkte eines Landes gegeneinander abwägen muss und dann eine Entscheidung treffen muss.

4 Gedanken zu “Finnland zum vierten Mal Glücksweltmeister

  1. Liebe Claudia, danke erst einmal für die Erwähnung. Ja, das finnische Gesundheitssystem habe ich auch schon kennengelernt. Das ist tatsächlich was für Reiche – salopp gesagt. Das ist uns in Deutschland und Österreich tatsächlich nicht so bewusst, weil es immer noch hervorragend ist und wir es ja gar nicht anders kennen. Wie ist es eigentlich mit den Tests und den Impfungen in Sachen Corona – sind die denn kostenfrei für alle in Finnland? Liebe Grüße, tarja

    • Liebe Tarja,
      ja, danke für deinen Kommentar. Mittlerweile gibt es genug PCR-Tests, aber im Frühjahr war es ganz anders. Schnelltests gibt es weiterhin überhaupt keine für Privatleute, weder über die Apotheke noch sonstwo. Ein Schnelltest kostet so 180 Euro. Ich habe persönlich mit Leuten gesprochen, die einfach keinen Test erhalten haben, weil man gesagt hat, „Sie kommen nicht aus China und nicht aus Italien, also werden Sie nicht getestet“ (und sie hatten es aus Österreich). So z.B. erzählte es ein Student von mir, der in Österreich Skifahren war, die gesamte Gruppe junger Männer wurde krank, als sie zurückkamen, mittelweile schon als „klassisch“ empfundene Situation. Kamen mit der Maschine von Salzburg zurück, da saßen auch diejenigen, die in Ischgl gewesen waren… Die Impfung ist für alle zum Glück kostenlos, das ist wohl in der ganzen EU so und vereinbarte Sache. Ja, je älter man wird und je mehr man sich seiner eigenen Vergänglichkeit bewusst wird, desto mehr achtet man auf solche Dinge… Mit 20 spielt das alles keine Rolle. LG, Claudia

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