Finnland – das echte Land der unbegrenzten Möglichkeiten

Die New York Times hat davon berichtet, genauso wie die Welt, der ORF genauso wie die ARD.

Finnland hat mit der 34jährigen Sanna Marin die jüngste Ministerpräsidentin der Welt. Laut finnischem öffentlichen Rundfunk YLE hat die Wahl Marins in den letzten zwei Wochen für mehr internationale Berichterstattung gesorgt als der finnische Präsident Niinistö im ganzen letzten Jahr zusammen!

 

Damit nicht genug, das von ihr geführte Kabinett ist überwiegend weiblich, die Leitung aller der in der Regierung vertretenen Parteien liegt in der Hand von Frauen.

Vielleicht könnte man sagen, dass man diese erst dann den Frauen in die Hand gibt, wenn die Männer schon den Karren an die Wand gefahren haben – was eine mögliche Interpretation darstellt. Doch das wäre eine viel zu simplifizierende Erklärung. Ich möchte im Folgenden einiges an Infos liefern, die in der deutsch- und englischsprachigen Presse entweder überhaupt nicht oder nur unzureichend vorhanden waren. Aber zunächst zu den Fakten.

Die gesamte Regierung umfasst 19 Ministerposten, 12 davon werden von Frauen eingenommen.

Das Dreamteam besteht aus:

 

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Ministerpräsidentin Sanna Marin (Sozialdemokraten):

Marin verfügt über einen Masterabschluss in Politik- und Verwaltungswissenschaft von der Universität Tampere (drittgrößte Stadt Finnlands nach Helsinki und Espoo) und wurde mit 27 in den dortigen Stadtrat gewählt, um ein Jahr später den Vorsitz zu übernehmen (den Vorsitz verschweigt die ARD in ihrem Beitrag https://www.tagesschau.de/ausland/finnland-marin-101.html?fbclid=IwAR0aaZVHgA_kJNLW7dtmM0jmkrC_CdufgX7X27VZ7XRKp51eoYvr4TZbaoc ).

Seit 2015 sitzt Marin im finnischen Parlament, gewählt als Kandidatin ihres Wahlkreises, die die meisten Wählerstimmen erhalten hat. Bei den Kommunalwahlen 2017 erhielt sie ebenfalls von allen Kandidaten die meisten Stimmen, irgendwas wird sie in ihrer Heimatstadt wohl bewirkt haben, dass die Wähler ihr dort deren Vertrauen geschenkt haben.

In der internationalen Presse ist angekommen, dass Marin Tochter einer alleinerziehenden Mutter ist. Was weniger erwähnt wird, ist dass ihre Mutter nach der Trennung von Marins Vater eine gleichgeschlechtliche Beziehung einging und Marin damit von zwei Frauen aufgezogen wurde. Marin selbst erzählt darüber, dass sie darunter gelitten hat, dass ihre kleine Regenbogenfamilie nicht wirklich als solche anerkannt wurde, obwohl sie auch erwähnt, dass sie keine direkte Diskriminierung erlebt hat (z.B. in einem Beitrag der finnischen Zeitschrift Menaiset: https://www.menaiset.fi/artikkeli/ajankohtaista/ihmiset/sateenkaariperheessa_kasvanut_sanna_marin_sateenkaariperheessa?fbclid=IwAR34xQI9299aeV-ko1oK28HkcCy3sjyb-3GrjyZ0Oa_5QFKgcGDZanT-Jhg ).

In ihrer Jugend konnte sie sich noch nicht vorstellen, selbst in die Politik zu gehen, aber dann begann eine steile Karriere: 2014 wurde sie zur zweiten stellvertretenden Vorsitzenden der sozialdemokratischen Partei gewählt, 2017 zur ersten Stellvertreterin.

Im Kabinett Rinne wurde Marin Ministerin für Verkehr und Kommunikation. 2019 vertrat sie den Ministerpräsidenten Antti Rinne während seiner krankheitsbedingten Auszeit und wurde nach dessen Rücktritt am 8.12.2019 von ihrer Partei zu dessen Nachfolgerin bestimmt.

 

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Ministerin für Bildung Li Andersson (Linke):

Anderssons Eltern sind der Künstler Jan-Erik Andersson und die Journalistin Siv Skogman.

Von den in diesem Blog erwähnten Frauen ist sie diejenige, der man noch am ehesten einen Mittelklasse-Hintergrund zuschreiben kann.

Bei ihrem Studium an der Åbo Akademi in Turku belegte sie als Hauptfach internationales Recht und spezialisierte sich auf die Internationale Menschenrechtsgesetzgebung und Flüchtlingsfragen. Als Nebenfach wählte sie russische Sprache und Kultur.

Zusammen mit zwei weiteren Autoren hat sie ein Buch über die extreme Rechte in Finnland herausgegeben.

In den Parlamentswahlen 2019 konnte sie von allen Kandidaten außerhalb der Hauptstadtregion die meisten Stimmen auf sich vereinigen.

 

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Ministerin des Inneren Maria Ohisalo (Grüne):

 

Ohisalo wurde 1985 in eine arme Familie hineingeboren, die man als typische Problemfamilie bezeichnen kann: Phasen von Arbeitslosigkeit und kurzer Beschäftigung wechselten ab, die Eltern waren beide nur 20 Jahre alt, der Vater litt an Alkoholproblemen, die zur Trennung der Eltern führte. Ihren ersten Geburtstag feierte Maria mit ihrer Mutter im Frauenhaus. Nach der Trennung setzte die Mutter ihr Studium fort und arbeitete an Abenden und Wochenenden. Ohisalo hat Soziologie studiert und bezeichnet sich selbst als „Forscherin zum Thema Armut“, ihre Doktorarbeit hat sie zum Thema der finnischen Tafeln geschrieben (die im Finnischen wortwörtlich „Brotschlangen“ genannt werden).

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Ministerin der Justiz: Anna-Maja Henriksson (Schwedische Volkspartei):

Sie wurde als jüngstes Kind von sieben geboren, ihre Mutter Majlis war Krankenschwester, ihr Vater Lars Handelsvertreter. Ihr Vater starb, als sie ein halbes Jahr alt war und die Mutter wurde zur Alleinerzieherin einer Kinderschar zwischen dem 17jährigen Stefan und dem Säugling Anna-Maja (diese Informationen stammen aus einem Interview, das Henriksson dem Journalisten Daniel Olin im finnischen Rundfunk YLE am 27. November 2019 gegeben hat). Die Mutter hatte keine feste Stelle, sondern musste sich mit wechselnden Arbeitsverhältnissen als Krankenschwester über Wasser halten. Im Interview erzählt sie, wie geschickt die Mutter ihre Einkäufe plante, selber backte und für die Kinder Kleidung schneiderte. Über die Möglichkeit, als jüngstes Kind von sieben – und auch noch als Mädchen – von der Region Pohjanmaa zum Jurastudium nach Helsinki zu gehen und schließlich Justizministerin zu werden sagt sie: „Ich wäre hier nicht ohne ein Bildungssystem, das allen gleiche Chancen bietet.“ («Inte skulle jag sitta här idag, om vi inte haft en skola, som givit alla lika möjligheter“ – „Minä en olisi tässä nyt ilman tasa-arvoista koulutusjärjestelmä.“, 17:28). Als ausgebildete Juristin und Richterin mit langjähriger Erfahrung ist sie seit 2014 in wechselnden Regierungen Justizministerin.

Ihre Muttersprache ist Schwedisch (ebenso wie bei Li Andersson), außerdem spricht sie natürlich Finnisch, Englisch und hat in der Schule das sogenannte „kurze Deutsch“ (das kann alles sein zwischen einem und sechs Jahren Deutsch) gehabt.

 

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Ministerin der Finanzen Katri Kulmuni (Zentrumspartei):

 

Kulmuni hat einen bäuerlichen Hintergrund, ihr Vater bewirtschaftete in Tornio in Westlappland einen kleinen Bauernhof, dessen Hintergrund bis ins 15. Jahrhundert zurück zu verfolgen ist. Die Mutter war Sonderpädagogin. Kulmuni studierte an der Universität in Rovaniemi internationale Beziehungen und auch Russisch, inklusive einem Studienaufenthalt in St. Petersburg (entnommen von der eigenen Homepage https://www.katrikulmuni.fi/katri-ja-media/) .

 

Seien wir ehrlich: wer kann sich das für Deutschland, oder gar für Österreich oder sogar für die Schweiz vorstellen? Eine Bauerntochter statt Olaf Scholz?

Was macht Finnland anders, damit eine solche Konstellation möglich wird?

 

In Finnland sind solche Karrieren möglich, weil eine alleinerziehende Mutter – drei der fünf Ministerinnen haben diesen Hintergrund – in den meisten anderen Länder nicht die Unterstützung erhält, die sie braucht, um einerseits weiterhin berufstätig zu sein (was hier eine Selbstverständlichkeit ist), aber auch ihre Kinder in der Ganztagsschule gut betreut sind. In öffentlichen Schulen, die alle ein sehr ähnliches Niveau haben, weil es so gut wie keine Ghettos gibt, mit gut ausgebildeten Lehrern, die Schüler wie Marin fördern und an sie glauben. Alle diese Frauen hatten starke Mütter, die berufstätig waren und ihren Kindern ein Modell vorgelebt haben.

 

Spannend, dass auch in Finnland ganz ähnliche Kritik zu hören war wie in den Anfangszeiten der Regierung Merkel. „Kohls Mädchen“ findet hier sein Pendant in „Rinnes Marionette“. Ich würde jedenfalls Sanna Marin wünschen, dass sie es genauso lange wie Merkel macht.

 

PS Wenn Sie Mitglieder der finnischen Regierung treffen und sich mit jemandem in perfektem Deutsch unterhalten wollen, dann sollten Sie ein Treffen mit der Ministerin für europäische Angelegenheiten und staatliche Beteiligungsführung Tytti Tuppurainen vereinbaren.

(Alle Bilder sind der Bilderbank der finnischen Regierung entnommen, die unter CC BY 4.0 zur Verfügung stehen, siehe https://kuvapankki.valtioneuvosto.fi/f/Wzpf )

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