Einer der großen Unterschiede zwischen Finnland und allen deutschsprachigen Ländern ist, dass Finnland zum größten Teil erst nach dem zweiten Weltkrieg industrialisiert worden ist. Das betrifft den Bau von Fabriken, die Landflucht der Bevölkerung und damit den Umzug in moderne Stadtwohnungen wie auch die rapide Abnahme von Personen, die in der Landwirtschaft arbeiten. Böse Zungen in Finnland reden in diesem Zusammenhang davon, dass die Finnen erst später vom Baum runtergekommen wären als der Rest von Europa, vielleicht ist dieses der humorvolle Versuch, mit der Erfahrung zurechtzukommen, dass Finnen bei Ausflügen im Rest von Europa immer wieder erlebt haben, dass es woanders schon sehr gekünstelt und „zivilisiert“ daher ging.
Hier möchte ich sieben Sachverhalte vorstellen, an denen man merkt, dass Finnland bis zum zweiten Weltkrieg noch ein Agrarstaat war. Und dass die vorindustrielle Zeit noch viel näher am heutigen Finnland dran ist als am heutigen Deutschland.
- Bäuerliche Traditionen beim Essen sind hier noch lebendig. So wie das traditionell frühe Mittagessen. Viele Gäste wundern sich, warum finnische Kantinen schon um 10.30 aufmachen und es bereits um 11 Uhr sehr viele Kantinenbesucher gibt. Das frühe Mittagessen erklärt sich durch den bäuerlichen Rhythmus. Der Bauer steht besonders im hellen Teil des Jahres sehr früh auf, oft schon um fünf Uhr, isst bereits um diese Zeit sein Frühstück und hat dann natürlich schon um 11 Uhr einen Riesenhunger. Die Industrialisierung bedeutete, dass die Fabrikarbeit etwas später begann und mehr durch die Fabriksglocke geprägt wurde als durch die Natur. Auch wird zum Frühstück viel Brei gegessen – in der Menschheitsgeschichte ist Brei die viel ältere Form, Getreide zu verarbeiten, weil hierfür die Körner nur gekocht werden müssen. Während man in Mitteleuropa schon seit längster Zeit zu der haltbareren und besser transportierbaren Form -dem Brot – übergegangen ist und Brei nur noch für Kinder und Magenkranke reserviert. Eine andere Besonderheit ist, dass man hier keine Kuchengabeln kennt („wieso braucht man dafür eine eigene Gabel?“ fragt der Finne in Deutschland). Und natürlich die Tatsache, dass jeder Finne im Durchschnitt 14 Kilo Beeren im Jahr pflückt – und diese Tradition stammt noch aus der vorbäuerlichen Phase, als wir alle Jäger und Sammler waren.

2. Das Überleben der traditionellen Webkunst und die allgemeine Verwendung von Webstühlen. So gut wie jeder Finne hat noch eine Großmutter in Erinnerung, die am Webstuhl saß und die aufgetragene Kleidung und alte Laken der Familie in Flickenteppiche umsetzte. In den Bauernfamilien hatte man weder Geld, um neue Teppiche zu kaufen noch waren überhaupt neue Teppiche irgendwo erhältlich, und es wäre auch niemandem eingefallen, Laken oder alte Hemden einfach wegzuwerfen. In Deutschland ist mit dem Umzug der armen Landbevölkerung in kleine Stadtwohnungen das Weben verloren gegangen. Über das Thema habe ich einen eigenen Blog geschrieben: https://claudiashelsinki.com/2019/01/26/die-oeffentlichen-webateliers-finnlands-wo-sich-oekologie-und-kunsthandwerk-treffen/
3. Die Institution des Mökkis, in der das Landleben wenigstens im Sommer weiter gelebt wird, wenn auch nur rudimentär. Dazu gibt es einige Blogs, der erste ging allgemein über die Institution Mökki https://claudiashelsinki.com/2018/09/29/moekki-der-rueckzugsort-fuer-die-finnische-seele/ , die beiden weiteren darum, was man beim Anschaffen eines eigenen Mökkis beachten sollte: https://claudiashelsinki.com/2021/01/02/auf-der-suche-nach-einem-eigenen-moekki-teil-1-die-finanzen/ sowie https://claudiashelsinki.com/2021/01/10/auf-der-suche-nach-einem-eigenen-moekki-teil-2/.
4. Praktische, funktionelle Kleidung wird hier bevorzugt. Kleine Kinder bekommen Overalls angezogen, in denen sie sich schmutzig machen können, hier fällt es niemanden ein, sie in Rüschenkleider und feine Anzüge zu stecken und dann ihnen nachzurufen, dass sie sich beim Spiel bloß nicht dreckig machen sollen. Irgendwie habe ich sowieso nie verstanden, was man mit dieser Feinmacherei bewerkstelligen will. Kinder, die in Pfützen springen können, sind ja so viel glücklicher. So wie der Bauer beim Ausmisten des Stalls auch seinen Overall an hat. Genauso die Studierenden. Sie haben den eigenen passenden Overall, in dem gefeiert wird. Einfach praktisch.

5: Die finnische Sprache ist voll von Ausdrücken aus der vorindustriellen Zeit. Sei es, dass hier im aktiven Sprachgebrauch Ausdrücke sind, die man in Mitteleuropa nicht einmal mehr in der Muttersprache versteht oder das Redewendungen aus der Landwirtschaft im allgemeinen Sprachgebrauch weiterhin in häufiger Verwendung sind. Hier ein paar Beispiele, fangen wir mit den Tieren an:
„hänellä on oma lehmä ojassa” – er / sie hat die eigene Kuh im Graben: wird gebraucht, wenn jemand eigene Interessen im Spiel hat
„menee alaspäin kuin lehmän häntä” – wörtlich ”es geht abwärts wie der Schwanz der Kuh“, im Deutschen geht es bergab mit jemandem oder etwas.
Und wenn man im Deutschen jemandem Informationen entlocken muss oder sie ihm aus der Nase ziehen muss, so werden die entsprechenden Kenntnisse hier „gemolken“ (lypsätä tietoa).
Ein blinder Passagier oder Schwarzfahrer ist hier ein Hase (jänis).
Jäger- oder Anglerlatein sind bei uns „Fischgeschichten“ (kertoa kalajuttuja) – und eine Schnapsleiche ist ein „Suff-Fisch“ (kännikala).

Wer ein Gedächtnis wie ein Sieb hat, der hat im Finnischen das Gedächtnis eines Huhns (kanan muisti).
Wer eine saubere Weste hat oder ein Unschuldslamm ist, der ist im Finnischen „rein wie die Schneeammer“ (puhdas kuin pulmunen).
Als „Bär“ (karhu) wird ein lästiger Mahner bezeichnet, Mahnungen eintreiben ist ein daraus abgeleitetes Verb karhuta. Oft ist mit dem Bären auch die Steuer gemeint.
Obwohl es trotz entgegenlautender Gerüchte natürlich keine Eisbären in Finnland gibt, weiß man hier, wie die Kälte „im Arsch des Eisbären“ (kylmä kuin jääkarhun perseessä) zu nennen ist, nämlich eine Affenkälte (das Deutsche ist eher ein Fragezeichen, wie der Affe hier zur Kälte gekommen ist). Eine andere Variante dieser Art von Kälte verweist auf den Nachbarn: „kylmä kuin ryssän helvetissä“: Kalt wie in der Hölle des Russen.
In Ermangelung von Elefanten in der finnischen Natur macht man hier auch nicht aus einer Mücke einen Elefanten, sondern einen kleinen Ochsen (tehdä kärpäsestä härkänen).
Natürlich hat auch der längere Winter seine Spuren in der Sprache hinterlassen.
Wenn man im Deutschen sein Fähnchen oder Mäntelchen nach dem Wind hängt, dann dreht man im Finnischen seinen Schlitten oder sein Segel um (kääntää kelkkansa t. purjeensa). Hier wird nicht auf den Busch geklopft, sondern es wird mit dem Stock das Eis probiert (koettaa kepillä jäätä).
riihi – Darre (Wer weiß noch, was die Darre ist?!) ist ein sehr produktives Wort im Finnischen, das in verschiedenen Komposita Verwendung findet, so gibt es
aivoriihi – wörtlich „Gehirndarre“, gemeint ist ein Brain-Trust, ein beratender Ausschuss in Wirtschaft und Politik, und
budjettiriihi – wörtliche „Budjetdarre“; gemeint sind hier die vorbereitenden Budgetdiskussionen in der Politik, bevor ein neuer Haushalt verabschiedet wird

aisa – Deichsel (ursprünglich an Fuhrwerken mit Zugtieren im Einsatz) – Wird in verschiedensten Kombinationen verwendet, so z.B. in der Wendung saada jk aisoihin – jemanden in die / seine Schranken weisen
haavi – Käscher ist ebenfalls ein produktives Wort, so sagt man jäädä haaviin („im Käscher bleiben“), wenn man erwischt oder ertappt wird oder jemanden ins Netz gekriegt hat oder saada haaviin („in den Käscher kriegen“), wenn man einen großen Coup gelandet hat.
halla – der Nachtfrost ist weiterhin als gefährlich bekannt: wenn man „Nachtfrost macht“ (tehdä hallaa), dann schadet man einer Sache oder leidet unter etwas.
Man findet sogar noch Spuren von der ehemaligen Weltansicht aller finnougrischen Völker, des Schamanismus. Wenn man bei einer Diskussion den Sieg davonträgt oder jemanden überlegen ist bzw. jemand in die Tasche steckt, dann „zaubert man ihn in das Moor“ (laulaa suohon). Über jemanden, der im Leben Glück hat, kann gesagt werden, dass er oder sie „mit einem Zahn im Mund geboren wurde“ (hammas suussa syntynyt)– es galt als Omen dafür, dass der oder die Betroffene zum Schamanen auserkoren ist. Während es in der deutschen Überlieferung als schlechtes Omen galt (das Kind wird ein Vampir).
Und wenn man jemanden ordentlich ausschimpft, dann „spricht oder liest man den Schlangenzauberspruch“ (lukea madonluvut).
Wer hätte gedacht, dass die magische Vergangenheit noch so in der Sprache verankert ist!
6. Der Bauernkalender in Kombination mit den Namenstagen ist weiterhin im aktiven Sprachgebrauch. Am 25.7., dem Jakobstag „wirft Jakob einen kalten Stein in den See“ (Jaakko heittää kylmän kiven järveen; man beachte zweimal eine schöne Alliteration), gemeint ist, dass von diesem Tag an die Seen wieder kälter werden. Ein weiteres Beispiel von der Sprachwissenschaftlerin Schellbach-Kopra (Finnische-deutsche Idiomatik, 1985, Seite 39): „“Wenn Simon (28.10.) keine Brücken macht, fährt auch Andreas (30.11.) nicht mit dem Schlitten“ sind in Finnland weiterhin so geläufig, dass Teile davon jederzeit phraseologisch benutzt werden können.“

Sehr geläufig ist auch die „Frauenwoche“ (naisten viikko) zwischen dem 18. und dem 24. Juli, an welchen Tagen nur Frauen Namenstage haben, nach dem Bauernkalender ist diese Zeit angeblich immer regnerisch.
7. Unübersetzbare Wörter, die sehr viel mit der Natur zu tun haben. Dazu gibt es auch bereits einen eigenen Blog. Hier möchte ich gerne eines meiner Lieblingswörter verwenden, für das es kein deutsches Pendant gibt: apaja.
Damit bezeichnet man eine Stelle, an der man reiche Funde tätigen kann. Das kann eine pilzreiche Stelle sein oder ein Fischgrund oder ein Jagdrevier.

PS Wer des Finnischen mächtig ist, darf mir gerne noch ein paar weitere Beispiele für Punkt 5 liefern, dafür bedanke ich mich schon mal im Voraus!
2 Gedanken zu “7 Zeichen an denen man merkt, dass Finnland erst nach dem zweiten Weltkrieg industrialisiert wurde”