Mit dem folgenden Beitrag lehne ich mich ziemlich weit aus dem Fenster. Wenn nämlich Finnland irgendwann in der Zukunft ganz ähnliche Zahlen aufweisen sollte wie der Rest von Europa, dann können Sie meinen Beitrag zerpflücken. Ich bin aber nicht die Einzige, der aufgefallen ist, dass Finnland „ein stiller Sieger“ im Kampf gegen Corona ist, wie es das Deutsche Ärzteblatt ausdrückt (https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/118102/Stiller-Erfolg-im-Kampf-gegen-die-Pandemie ) oder auch der Merkur (https://www.merkur.de/welt/finnland-corona-europa-infektionen-schweden-sanna-marin-helsinki-lockdown-zr-90098192.html ). Natürlich sollten wir nicht vergessen, dass der Umgang mit dem neuen Virus kein Hundertmetersprint ist, sondern eher ein Marathon, erst nach der Impfung wird sich also herausstellen, ob Finnland ein Sieger geblieben sein wird.
Die meisten Journalisten erwähnen als Gründe meine ersten fünf, Gründe sechs bis acht jedoch habe ich bisher in keiner mitteleuropäischen Veröffentlichung gesehen. Hier also ganz exklusiv für die Leser von Claudias Helsinki meine ganze Liste:

- Finnen halten Abstand, ganz natürlich und von sich aus. Die persönliche Bubble ist hier viel größer als in den meisten anderen Ländern. So braucht der Finne im Durchschnitt mindestens 1,20 Meter Abstand, um sich wohlzufühlen, werden es weniger, fühlt er sich „auf die Pelle gerückt“ und macht einen Schritt zurück. Bei Corona kann das genau der entscheidende Schritt sein. Der Abstand im Norden ist bei den Finnen am größten, aber auch in Norwegen und Schweden mag man es nicht, wie Heringe in einer Dose zusammen zu sein. Könnte ein wichtiger Grund sein, warum Schweden trotz seiner liberalen Haltung relativ glimpflich davonkommt.
- Finnen begrüßen sich nicht mit Handschlag. Ein „Hallo“ reicht aus. Schon vor Corona fand man in Krankenhäusern und anderen Gesundheitseinrichtungen ein Plakat mit durchgestrichenem Handschlag und der Information „wir schütteln uns hier nicht die Hände“. Das Foto ist in meinem allerersten Blog zu sehen (und als Titelbild dieses Blogs)! Das gilt übrigens auch für die beiden anderen nordischen Nachbarn.
- Finnen haben mehr Platz im Land als andere. Hier gibt es im Durchschnitt 16 Personen auf einen Quadratkilometer, in Deutschland sind es 237. Die Stadt Helsinki, hat zwar 3033 Einwohner/km2, aber ganz nebenbei hat die höchste Dichte nicht etwa Helsinki, sondern die kleine Stadt Kauniainen, die von Espoo umgeben ist, hier wohnen etwas über 9000 Menschen auf einen Quadratkilometer! Dennoch ist Helsinki umgeben von Bereichen, in denen wesentlich weniger Menschen leben, so dass die Region Helsinki (Helsinki, Vantaa, Espoo, Kauniainen, Kirkkonummi, Vihti, Nurmijärvi, Hyvinkää, Tuusula, Järvenpää, Mäntsälä, Pornainen, Sipoo) nur eine durchschnittliche Bevölkerungsdichte von 370 Menschen auf den Quadratkilometer aufweist. Wir haben es hier mit dem Einzugsbereich von Helsinki zu tun, von dem aus man noch nach Helsinki zur Arbeit pendeln kann, circa alles, was weniger als 100 km vom Stadtzentrum entfernt ist. Daher ist der am dichtesten besiedelte Teil Finnland, auf dem 27% der gesamten finnischen Bevölkerung leben, gerade einmal ein bisschen dichter bewohnt als Gesamtdeutschland!
Zum Vergleich: Schweden hat 25, Norwegen hat 14 Einwohner pro Quadratkilometer.

4. Finnen halten sich in der Regel an Empfehlungen, während Mittel- und erst recht Südeuropäer klare Anweisungen und Verbote brauchen (und selbst dann halten sie sich nicht unbedingt daran). Hier reicht es, wenn das einheimische „RKI“, hier heißt es „THL“, eine Maskenempfehlung ausspricht und schwupp die wupp, auf einmal halten sich schon mehr als die Hälfte der Leute daran. Weil man davon ausgeht, dass es Gründe für diese Empfehlung gibt. In Schweden übrigens auch ganz ähnlich.

5. Mehr als die Hälfte der finnischen Bevölkerung verwendet die einheimische Corona-App. Ein Weltrekord (Claudias Helsinki berichtete bereits: http://claudiashelsinki.com/2020/11/06/weltrekord-bei-der-finnischen-corona-app/)! Daher kann hier die App helfen, so schnell wie möglich Menschen zu informieren, die sich längere Zeit in der Nähe eines Infizierten aufgehalten haben. Ohne App kann niemand gewarnt werden, der dummerweise im Zug 20 Minuten neben einem gesessen hat!
6. Finnen verwenden Hunde für die Identifizierung von Covid-19-Infizierten am Flughafen. Funktioniert. Übrigens auch ein wichtiger Beweis, dass es sich eben nicht um „normale“ Corona-Viren handelt, die es schon seit Ewigkeiten gibt – und auf die nach Meinung der Aluhüte der PCR-Test dann fälschlicherweise reagiert. Kein Drosten der Welt kann einen Hund bewegen, etwas zu unterscheiden, was vom Duft identisch ist. Hier ein englischsprachiger Link der BBC, die darüber berichtete: https://www.bbc.com/news/world-europe-54288067 (und ebenso: https://www.theguardian.com/world/2020/sep/24/close-to-100-accuracy-airport-enlists-sniffer-dogs-to-test-for-covid-19 ). Vielleicht sollten sich Deutschland, Österreich oder die Schweiz mal ein paar solche Hundeausbilder aus Finnland engagieren, die dafür eingesetzten Mittel amortisieren sich in Windeseile – ein Hund braucht nur wenige Sekunden für das Identifizieren des Virus.
7. Wir haben in Finnland Politiker, die mehr sachorientiert sind als solche, bei denen sich alles nur um den eigenen Nabel dreht. Wenn die Sache für alle kristallklar daliegt, dann arbeitet in Finnland auch die Opposition zusammen mit der Regierung. In anderen Ländern ist das nicht möglich, weil auch offensichtlich gute Entscheidungen nur deswegen abgelehnt werden müssen, weil sie von der „falschen“ politischen Partei kommen.
8. In Finnland ist die Bevölkerung wissenschaftsfreundlicher aufgestellt und hat besseres Wissen in Biologie und anderen Naturwissenschaften. „Scientific Literacy is one of the aspects discussed in the objectives of science education in schools.” Das Schlagwort lautet hier Scientific Literacy, meistens auf Deutsch als naturwissenschaftliche Grundausbildung wiedergegeben. Sie wird definiert als Wissen und dessen Anwendung, Fragen zu identifizieren, sich neues Wissen anzueignen, wissenschaftliche Phänomene zu erklären und evidenzbasiert Schlussfolgerungen zu ziehen (eigene Übersetzung von:
„In the PISA (OECD, 2012) Scientific literacy is defined as the knowledge and use to identify questions, acquire new knowledge, explain scientific phenomena and draw conclusions based on evidence.“ (Anwar 2015, zitiert aus https://www.researchgate.net/publication/323004207_Biology_Science_Based_PISA_Framework_Implications_for_Enhancement_Students_Scientific_Literacy)
Bei „Science literacy“ unter den Nicht-Asiaten liegt Finnland mit 522 Punkten auf dem zweiten Platz nach Estland (530) und vor Kanada (520). Nur zum Vergleich: Deutschland liegt bei 503, die Schweiz bei 495 und Österreich bei 490 Punkten (https://www.oecd.org/pisa/Combined_Executive_Summaries_PISA_2018.pdf)
Mir erscheint es keineswegs ein Zufall, dass geringe Corona-Zahlen mit besserer naturwissenschaftlicher Grundausbildung Hand in Hand gehen.
Noch ein Forschungsergebnis: als europäische Rektoren gefragt wurden, welche Arten von Knappheit ihre Schule sehr oder ziemlich daran hindern würden, qualitativ guten Unterricht anzubieten, nannten in Finnland nur 2,1% den Mangel an qualifizierten Lehrkräften, der zweitniedrigste Wert der EU, nur Slowenien war mit 1,1% noch besser dran. („the following shortages of resources hinder the school’s capacity to provide quality instruction ‘quite a bit’ or ‘a lot’, https://op.europa.eu/en/publication-detail/-/publication/15d70dc3-e00e-11e9-9c4e-01aa75ed71a1/language-en/format-PDF/source-135676467 )
Der Zusammenhang ist daher ganz klar: Investitionen in Bildung und gut ausgebildete Lehrkräfte führen zu einer besseren naturwissenschaftlichen Grundausbildung. Einer solchen Bevölkerung kann man naturwissenschaftliche Zusammenhänge besser erklären und diese versteht dann auch etwas komplizierte Zusammenhänge besser. Und ganz “nebenbei”: Besser ausgebildete Lehrkräfte kennen sich natürlich auch mit dem Einsatz von IT viel besser aus und konnten im Frühjahr von einem Tag auf den anderen in den Online-Unterricht wechseln. Was wiederum noch ein anderes Thema ist und einen eigenen Blog wert ist.
In Deutschland wird die AHA-Devise propagiert: Abstand, Hygiene, Alltagsmaske.
Meine oben erwähnten Gründe eins bis drei fallen unter „Abstand“. Vieles weist darauf hin, dass Tröpfchen- und Aerosole den Löwenanteil an Infektionen verursachen, darauf hat auch Professor Drosten hingewiesen. Die Hygienemaßnahmen wie häufiges Händewaschen vermeiden nur die Schmierinfektionen, etwa durch eine virenbehaftete Türklinke, anteilsmäßig werden diese jedoch auf maximal 20% geschätzt. Die Alltagsmaske fehlte in Finnland eine lange Zeit – wo genug Abstand ist, brauchte man sie nicht unbedingt (und in keinem Fall sollte die Tatsache, dass sie in Finnland weniger verwendet wurde als in Mitteleuropa dazu führen, ihre Wirksamkeit anzuzweifeln). Die finnische Devise könnte auch AHA lauten, nur das zweite A verweist hier mehr auf die App, die hier wirklich gute Dienste erweist.
Finnlands Rezept könnte man aber auch AHAB nennen, „Abstand“ (bzw. Alltagsmaske, wenn der Abstand nicht einzuhalten ist), “Hygiene“, „App“ und „Bildung“.
3 Gedanken zu “Acht Gründe warum Finnland Corona besser übersteht als (fast) alle anderen”