Eine meiner Reisen nach Lappland mit Gästen hieß „Achtung Rentier!“ Das Rentier ist ohne Zweifel einer der Gründe, nach Lappland zu reisen. Im Blog über die Rentier-App habe ich schon Einiges über das Rentier geschrieben (http://claudiashelsinki.com/2020/05/16/die-rentier-app-lapplands/), aber hier gibt es noch weitere interessante Informationen, die es auf Deutsch kaum sonst zu erhalten gibt.
Garantie: Wer nach Lappland reist, bekommt Rentiere (Rangifer tarandus) zu sehen. Das garantiere ich Ihnen. Es gab noch nie eine Reise nach Lappland ohne dass man welche zu sehen bekommen hätte. Immerhin leben in Finnisch-Lappland circa 200.000 dieser Tiere, und jedes von ihnen gehört einem Besitzer oder einer Besitzerin. Wenn Sie mit mir in Lappland unterwegs sind und wir Glück haben, dann ist unsere Busfahrerin mit einem Rentierzüchter verheiratet und sie kann ihnen Fragen beantworten, auf die Wikipedia keine Antwort hat.
Aus mehreren Sommern weiß ich von ihr u.a., wie viele Rentierdamen im Harem eines Rentierbullens sein dürfen, nämlich circa ein Dutzend bis maximal 20. Sind es weniger, belästigt der Bulle die Damen zu sehr und diese können nicht in Ruhe grasen, sind es mehr, wird der Stress, den Harem zu verteidigen, so groß, dass der Arme selbst nicht zum Essen kommt.
In Finnland darf jeder Rentiere züchten, der Mitglied im Rentierzüchterverein wird. In Schweden und Norwegen muss man Same sein, um Rentiere halten und züchten zu dürfen. Die Forscher sind sich einig, dass die Besiedlung von Lappland ohne das Rentier nicht möglich gewesen wäre. Wichtigste Aufgabe des Rentiers war es, als Zugtier und Transporttier den Nomaden behilflich zu sein. Darüber hinaus bot es den Menschen nicht nur Fleisch und Fell, sondern auch Fett, das als Creme für wunde Babypopos verwendet wurde, Horn, das jedes Jahr nachwächst und die Sehnen wurden als Nähgarn verwendet. Das Fell wurde entgegen der Wachsrichtung unter die Stiefel genäht und ergab daher eine Art natürliche Spikes, so dass man auf Eis nicht ausglitt. Die Rentierhaare sind selbst ein wahres Naturwunder, da sie innen hohl sind, Luft ist bekanntlicherweise ein guter Wärmeisolator. Nicht ein Milligramm eines Tieres wurde verschwendet oder landete gar als Bioabfall in der Natur.

Rentierfleisch ist sehr gesund. Es enthält extrem wenig Fett, dafür aber jede Menge gesunde Mineralstoffe wie Selen. Und natürlich ist es bio, auch wenn es nicht besonders als bio gekennzeichnet ist. Das Rentier speichert alles Fett in einer Art Mantel über dem Körper. Dieser Fettmantel wird dann im Laufe des Winters immer dünner. Rentiere leben von Flechten und Moosen. Bekommen diese zu viel Gras oder gar Kraftfutter wie Kühe zu fressen, gehen sie ein, dieser Fehler wurde in Zoos gemacht, als man versuchte, die allerersten Rentiere außerhalb von Lappland zu halten. Flechten wachsen in Lappland aber nur mit einer Geschwindigkeit von einem Millimeter pro Jahr, so dass zu viele Rentiere die Natur Lapplands zu sehr beanspruchen, bei Überweidung muss man im Winter zufüttern und die natürliche Flechtendecke regeneriert sich nur langsam.
Rentiere sind übrigens Feinschmecker. Zu ihren Lieblingsspeisen gehören Steinpilze und deren Verwandten. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen: Ist es ein Sommer mit viel Pilzen, so essen die Rentiere nur die schmackhafteren Hüte und lassen die holzigeren Stiele stehen, ist es ein pilzarmer Sommer, dann wird der ganze Pilz gegessen. Übrigens vertragen die Tiere alle Pilzsorten, auch die für uns giftigen. Ihre mehreren Mägen verdauen alles. Also darf man sich nicht täuschen lassen und meinen, ein Pilz, den das Rentier esse, sei auch für uns verträglich! (Wen Pilze mehr interessieren: http://claudiashelsinki.com/2020/10/30/pilze-sammeln-in-finnland/)
Das Rentier hat noch eine weitere Besonderheit, die im Säugetierbereich nicht besonders verbreitet ist. Das Embryo eines Rentiers kann nämlich in der Entwicklung eine kurze „Pause“ einlegen, wenn die Mutter gerade nicht genug Futter bekommt. Es stoppt dann einfach mit dem Wachstum und fängt erst wieder an zu wachsen, wenn die Nähstoffzufuhr wieder zunimmt. Das ist eine einzigartige Möglichkeit, in der rauen nordischen Natur auch dann Nachkommen zu produzieren, wenn bei anderen Arten die Embryos in derselben Lage absterben.
Übrigens gibt es in Finnland auch die Urform des Rentiers, das Waldren (Rangifer tarandus fennicus). Jedoch insgesamt nicht mehr als circa 2000 Tiere, die südlich von Lappland leben, vor allem in den Provinzen Kainuu und dem Bereich Suomenselkä. Man versucht so, die halbwilde Art von den wilden Waldren fernzuhalten, damit sich die beiden Arten nicht vermischen. Diese Tiere sind jedoch streng geschützt.
Die auf Spitzbergen anzutreffenden Rentiere sind übrigens erst eingeführt worden, als die Waljäger und Trankocher auf die Idee kamen, dass Rentiere hier die einzigen Tiere sein könnten, die ohne Hilfe des Menschen überleben würden und auf die sie dann in Bedarfsfall als Nahrung zurück greifen könnten.
Und natürlich gibt es auch eine Legende dazu, wie die Samen – die sich Töchter und Söhne der Sonne nennen – zum Rentier gekommen sind.
Die Tochter des Vaters Sonne hatte sich in einen stattlichen Samen verliebt und überlegte sich, was sie ihrem Bräutigam zur Hochzeit schenken könnte. Da sie auf keine Idee kam, fragte sie ihren Vater um Rat. Dieser sandte seine Sonnenstrahlen auf die Erde, und auf den Strahlen schickte der wohlwollende Vater eine Herde von Rentieren seinem Schwiegersohn als Geschenk. Seitdem halten sich die Samen Rentiere.
Die Forscher sagen zwar, dass es ganz anders war. Jäger und Sammler entdeckten zunächst, dass angebundene Tiere andere wilde Rentiere anlockten und sie diese damit besser erlegen konnten. Irgendwann besann man sich darauf, dass es keinen Sinn machte, die angelockten Tiere alle zu erlegen, sondern dass man sich eine Art Herde zulegen konnte, indem man die Tiere zusammentrieb und die Jungtiere mit Ohrmarken als eigenen Besitz kennzeichnete.

Das ist mir aber zu unromantisch. Ich finde die Liebesgeschichte einfach viel schöner.
PS Danke an Oda und die Inspiration für die Geschichte.