Finnische Verteidigungspolitik aktuell

Als Fremdenführerin in Helsinki gehöre ich dem Verein der Fremdenführer*innen Helsinkis an. Unser Verein führt jährlich ein Winterseminar durch – im Winter natürlich deswegen, weil wir dann alle viel mehr Zeit für die Fortbildung haben.

Diesen Winter hatten wir das außergewöhnliche Vergnügen, uns von Spezialisten über aktuelle Themen informieren zu können, und dazu gehört natürlich auch die neue außenpolitische Situation Finnlands.

Absolute Spitzenreferentin zu dem Thema war Iro Särkkä, die 2019 ihre Doktorarbeit zum Thema: „Nato-Rhetorik im Diskurs der finnischen Verteidigungspolitik“ geschrieben hatte. Ihre eigene Rhetorik ist übrigens auch nicht von schlechten Eltern, falls jemand noch eine Referentin zum Thema braucht, dem kann ich sie wärmestens empfehlen!

Die Arbeit ist auf Finnisch geschrieben – es gibt aber ein englischsprachiges Abstrakt, alles einzusehen auf:  https://helda.helsinki.fi/handle/10138/303982

Sie hat dafür über 900 Quellen untersucht und beleuchtet, wie sich die Meinungen im Lauf der Zeit verändert haben, vor allem bei Mitgliedern des finnischen Parlaments, aber auch bei der Regierung. Kurz gesagt, hat es in der Zeit des Kalten Kriegs vier Lager gegeben: die Befürworter einer Mitgliedschaft, die Skeptiker, die Ablehner und die Pragmatiker. Die Befürworter einer Mitgliedschaft – die es schon immer gegeben hat – konnten jedoch nicht allzu viel ausrichten, weil sie regelmäßig bei der Befragung der Bevölkerung damit konfrontiert waren, dass die Mehrheit eine NATO-Mitgliedschaft ablehnte.

Im Sommer 2022 besuchte die amerikanische Navy Helsinki. Das Foto wurde vom Anleger Hernesaari aufgenommen, ich hatte dort einen Auftrag.

Die Lage hat sich nun so verändert, dass aus dem Lager der Skeptiker alle zu Pragmatikern geworden sind. Auch ganz klar: Das Lager der Pragmatiker war schon immer sehr groß, bei der über 1000 km langen Grenze mit Russland (der längsten gemeinsamen Grenze eines EU-Staats), auch die alte Paasikivi-Kekkonen-Doktrin sagt aus: „Das Anerkennen von Tatsachen ist der Beginn aller Weisheit.“ (Tosiasioiden tunnustaminen on kaiken viisauden alku). Ein wirklich weiser Spruch. Und die Pragmatik sagt nun, dass die Mitgliedschaft in der NATO das kleinere Risiko ist. Man ist also Befürworter, weil es vernünftig ist (dazu auch mein Blog: https://claudiashelsinki.com/2018/02/10/finnland-das-land-der-vernunftigen/) und nicht anders geht.

Der Satz wurde vom Präsidenten Paasikivi gesagt, aber Kekkonen hat ihn weiter geprägt, deswegen spricht man auch von der Paasikivi-Kekkonen-Linie oder Politik. Kekkonen ist übrigens mein 4. Cousin dritten Grades.

Von Särkkä gab es dann auch einen Überblick über die Pfeiler der finnischen Verteidigungspolitik:

  1. Territoriale Verteidigung und allgemeine Wehrpflicht (mindestens 165 Tage; für speziellere Aufgaben 255 und für Offiziersanwärter 347 Tage)
  2. Weiterentwicklung der Verteidigungsfähigkeit Finnlands
  3. Ausreichendes Verteidigungsbudget
  4. Resilienz der Bevölkerung bzw. Gesellschaft
  5. Finnland verfügt über ein Gesamtkonzept der Verteidigung und verteidigt sein gesamtes Territorium
  6. Hohe Verteidigungsbereitschaft

Sieht fast danach aus, dass in allen Punkten Deutschland Nachholbedarf hat. Ob man die allgemeine Wehrpflicht wieder einführen sollte?

Auch die deutsche Marine war im Sommer 2022 zu Besuch – was allerdings nicht ganz so sonderbar war wie der Besuch der Amerikaner.

Bei der Verteidigungsbereitschaft führt Finnland in Europa übrigens nach Georgien – auch ein Staat mit russischer Grenze – an zweiter Stelle. Die Deutschen sind am zweiwenigsten bereit, ihr Land mit Waffe zu verteidigen, nur die Niederländer zeigen noch weniger Bereitschaft dazu (allerdings sind diese Zahlen von vor dem Krieg).

Was genau diese Punkte dann im Detail bedeuten, ist natürlich interpretationsbedürftig. Darüber gibt es politische Diskussionen, aber alle sind sich über diese Grundpfeiler einig, inklusive der Opposition.

Als am 24. Februar 2022 der Ukraine-Krieg mit dem Überfall der Ukraine begann, zögerte Finnland nicht lang. Bereits am 6. März wurde bekanntgegeben, dass man sich das weltweit beste Luftverteidigungssystem zugelegt hat – in Israel. Hier der Presseartikel von YLE vom 5. März: https://yle.fi/a/3-12345358

Versuch das mal in Deutschland – in neun Tagen eine militärische Entscheidung, mit fünf jungen Damen als Parteivorsitzenden, über einen Milliardenposten… Übrigens konnte man einkaufen zu Preisen, die es nach langem Scholzen natürlich nicht mehr gibt.

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