Was ist bloss los im ehemaligen Corona-Musterland Finnland?

Dieser Blog fällt mir sehr schwer, das muss ich sagen. Ich dachte lange Zeit, dass wir in Finnland vieles besser gemacht hätten als andere. Und lange Zeit galt das auch, sogar der Spiegel kürte uns als das Land, das bisher am besten durch die Coronazeit gekommen sei. Das ist nun alles Geschichte. Besonders die Hauptstadtregion hat im Augenblick (7.1.2022) Zahlen, die durch die Decke gehen:

Helsinki: 3207,8 Coronafälle auf 100.000 Einwohner*innen in den letzten 14 Tagen

Vantaa: 3164,4 Coronafälle

Kauniainen: 2549,8 Coronafälle

Espoo: 2544,9 Coronafälle

Ganz Finnland: 1355,9 Coronafälle/100.000 Einwohner*innen in den letzten 14 Tagen

(DE: 559,8; A: 605,8; CH: 2631,8)

Prompt setzte am 25.12.21 das Robert-Koch-Institut Finnland auf die rote Liste der Hochrisikogebiete.

Aber natürlich gilt: Alles hat seine Gründe. Seit dem Sommer hat Finnland seine gute Position verspielt. Es fing damit an, dass in so gut wie allen Ländern sehr schnell die digitale Impfbescheinigung als der sogenannte „Coronapass“ eingesetzt wurde. In Finnland dachte man, dass Corona eh bald vorbei sein würde und man eventuell ganz ohne Einführung auskommen würde. Verbummelte die Zeit, mit dem Ergebnis, das er offiziell erst einen Tag vor dem Jahreswechsel eingeführt wurde – die Virologen in Mitteleuropa würden sich wahrscheinlich die Haare raufen, wenn sie davon hören würden.

Der nächste große Fehler war, dass man sich lange Zeit darauf verließ, dass zwei Impfungen reichen sollten. Bis zum Ende des Jahres 2021 wurde ganz offiziell die Meinung vertreten, dass die Booster-Impfung nur für über 60 oder gar nur über 70-jährige und eventuell noch für Risikogruppen vorgesehen sein sollte. Deswegen ist man zwar bei der Erst- und Zweitimpfung (77,4 und 74,4% der Gesamtbevölkerung, in Deutschland sind es 73,8% und 71%) ganz vorne – was für die Wildvariante eine super Waffe darstellte, mit dem Kommen von Delta und erst recht Omikron braucht man aber für alle den Booster, und der kommt hier viel zu schleppend an, nur 24,5% sind mit Datum 7.1.22 geboostert (in Deutschland sind es 41,2%, in Österreich 41,9%, sogar in der impffaulen Schweiz 28,3%). Das ist ein Punkt, den viele vergessen, veränderte Virusvarianten erfordern, dass man die Lage neu evaluiert. Neue Empfehlungen sind kein Zeichen dafür, dass man früher falsch gelegen hätte, im Gegenteil, sie sind ein Zeichen davon, dass man die veränderte Lage ernst nimmt und Konsequenzen zieht.

Und dann ließ man die finnischen Fußballfans nach St. Petersburg ziehen, wo sie sich Delta einfingen und es hierher brachten. Ohne jede Kontrolle.

Eins ist klar: Das Corona-Virus ist dasselbe, sowohl in Deutschland als auch in Finnland.

Trotzdem ist man zu ganz anderen Regeln gekommen, wie ich hier veranschaulichen möchte. Die folgende Tabelle könnte auch für finnische Leser*innen sehr interessant sein, die oft nicht wirklich gut informiert sind, wie eingeschränkt die Lage in Deutschland sein kann. Der Einfachhalt halber habe ich mich auf Deutschland beschränkt, in Österreich oder der Schweiz war es aber auch nicht wesentlich toleranter. Im Gegenteil, die harten Lockdowns in Österreich hatten es in sich. Der Übersichtlichkeit wegen verzichte ich auch auf Detailunterschiede zwischen den einzelnen Provinzen bzw. Bundesländern.

 DEFIN (insb. Hauptstadtbereich)
BelüftungBelüftungsregeln für Bildungseinrichtungen wie Schulen, Luftreinigerkeine Belüftungsregeln für Schulen, vereinzelte Luftreiniger in medizinischen Einrichtungen
RestaurantsEintritt/Essen nur mit 3 G oder 2 G (Coronapass) und in letzter Zeit sogar 2 G plus (event. mit Ausnahmen für Dreifachgeimpfte).Alle dürfen bis 17 Uhr essen, ab 17 Uhr bis 20 Uhr 3G; danach Sperrstunde für alle; in vielen Betrieben muss der Coronapass erst beim Kauf von Alkohol gezeigt werden.
Öffentliche Verkehrsmittel & GeschäfteMaskenpflicht ohne Ausnahmen ab dem 6. Lebensjahr (fast alle Bundesländer), Hamburg 7. Lebensjahr, Sachsen ab dem 2. Lebensjahr; Strafe bei Nichteinhaltung beträgt mindestens 50 Euro: 50-250 Euro (BW, Brandenburg), 250 (BA), 50-500 (Berlin), 200 (Hessen), 150 (HH), 100-150 (Niedersachsen), 50-150 (MV) usw.Maskenempfehlung oder „strenge Maskenempfehlung“ mit „medizinischen Ausnahmen“, auf die man sich ohne ein ärztliches Attest berufen kann gilt erst ab dem 12. Lebensjahr (vor 2021 sogar erst ab dem 15. Lebensjahr); keine Strafen bei Nichteinhaltung
Clubsfür alle 3 G, allerdings gilt nur ein PCR-Test, kein Schnelltestab 28.12.21 bis 16.1.2022 geschlossen
SchulenMaskenpflicht ohne Ausnahmen; 2x Testen/ Woche für allgemeine Schulen, 3x Testen/ Woche für weiterführende Schulennur Maskenempfehlung (siehe oben); KEINE TESTS
Coronapassgilt für alle ab dem 14. Lebensjahrgilt für alle ab dem 16. Lebensjahr
Einführung 3 G- Regelab 23. August 2021ab 30.12.2021 bis 20.1.2022 (sic!)
Regeln des CoronapassesEintritt nur nach Vorlage des CoronapassesMit Hilfe des Coronapasses können Beschränkungen umgangen werden, die sonst gelten würden. Wenn z.B. Kneipen und Restaurants normalerweise zu haben müssten, dann können sie für Inhaber des Passes offen haben. Oder die Öffnungszeiten sind länger für Passinhaber, z.B. geöffnet von 9-17 Uhr für alle, nur für Coronapassinhaber 17-20 Uhr.
Maskenbei der DB oder einzelnen Bundesländern war / ist eine FFP2-Maske Pflicht; es gibt keine Ausnahmen ohne ärztliches Attestchirurgische Masken reichen aus, es gibt keine Situationen, in denen FFP2 gefordert wird; man kann sich selbst in Eigenregie zur „medizinischen Ausnahme“ erklären
Testzentrenin so gut wie allen Städten kostenlos für die Krankenversicherten nutzbar, oft mit der Pflicht zum Testen und / oder kostenlosem Testen 2-3x/Wochees gibt keine öffentlichen Testzentren, Anmeldung zum Test bei den öffentlichen Gesundheitszentren / Krankenhäusern über ein elektronisches System; Wartezeit für einen kostenlosen Test derzeit im Hauptstadtbereich: 4 Tage; Test über das betriebliche Gesundheitssystem ist in der Regel noch am selben Tag erhältlich (aber nur, wenn er beruflich notwendig ist)
Kosten für einen PCR-Test im Land selbstfür Versicherte kostenfreifür Privatzwecke (wie z.B. Reisen) Kosten von circa 200 Euro; im günstigsten Fall (wenn über das Reisebüro möglich) circa 100 Euro
Kosten für einen Schnelltest im Land selbstfür Versicherte kostenfreifür Privatzwecke (wie z.B. Reisen) Kosten von mindestens 50 Euro
Ausgehverbote während des Lockdownsgab esgab es nie
Vergleich Coronamaßnahmen Deutschland-Finnland

Man erkennt hier überall eindeutige Lücken: Warum dürfen in Finnland 14 bis 15jährige ohne Coronapass überall hin? Das ist bekannterweise eine Generation, die gerade in der jetzigen Welle stark von Corona betroffen ist, selbst in der Regel aber keine Ahnung davon hat, was richtig krank sein bedeutet und deswegen auch oft nicht bereit ist, Einschränkungen zum Wohl der Gesamtheit hinzunehmen.

Anderes Beispiel: Ich möchte möglichst coronasicher essen gehen. Kann ich mittags in der Mehrzahl der Restaurants nicht machen, weil alle und jeder durch die Tür kommen kann und bedient wird. Manche Gastronomen sind sogar noch stolz darauf, dass bei ihnen jeder willkommen ist und haben einen extra Aufkleber entworfen, dass alle kommen können. Das sind für mich dann die Betriebe, wo ich nicht hingehen werde – auch wenn sie selbst glauben, dass sie durch ihre Willkommenspolitik mehr Cash machen werden. Coronasicherer geht es erst abends, wenn kontrolliert wird. Trägt jemand im Restaurant (zum Beispiel beim Holen des Essens vom Büffet) keine Maske, kann ich auch nichts machen.

Was waren das für unbeschwerte Zeiten: Mit österreichischen Gästen vor derem Bus 2021.

Noch ein anderes Beispiel: Als Unterrichtende darf und kann ich von meinen Studierenden keine Maske verlangen. Wenn jemand die Maske nicht tragen will, dann kann ich rein gar nichts machen, wenn ich ihn darauf hinweise, dass er eine Maske tragen sollte, dann reicht es, wenn er antwortet: „Aus medizinischen Gründen brauche ich keine Maske zu tragen.“ Ein Attest braucht er nicht vorzuweisen. Komisch, dass diese Begründung in keinem anderen Staat durchgeht. Auch kann ich weder in Deutschland noch in Österreich mit dem Verweis auf „ich habe Asthma“ den Maskengebrauch umgehen, da scheint Finnland das einzige Land der Welt zu sein, wo das geht. Im Unterrichtsgebäude gelten auch keine Coronaregeln: Alle und jeder kann rein, unabhängig vom Impf- oder Teststatus. Studierende mit Risikoerkrankungen werden darauf aufmerksam gemacht, dass der Unterricht auf dem Campus im Augenblick nicht sicher sei für sie, aber Unterrichtende sollen wieder auf dem Campus abkommandiert werden, weil sich einige Studierende beschwert hätten, dass sie Probleme mit dem Online-Lernen hätten. Eine ziemlich unsichere Lage, ganz ohne Tests.

In den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren zwischen 10 und 30% ohne Maske, je nach Stadtteil. Geht man ins feine Eira, dann tragen alle Maske – muss man in Suvela in Espoo einkaufen, dann hat die Hälfte der Einkäufer*innen keine Maske auf.

In Schweden und Estland sind die Corona-Zahlen im Augenblick niedriger als in Finnland.

Wie gesagt, das war jetzt kein einfacher Blog für mich. Als Fremdenführerin würde ich gerne was Anderes erzählen. Aber soll ich meine Leser*innen anlügen oder die Wahrheit verschweigen? Spätestens beim Blick auf die Liste des RKIs kommen Fragen auf, und dieser Blog soll dazu beitragen, diese zu beantworten. Gerade zum Dreikönigstag hätte ich einen langersehnten Privatauftrag gehabt. Der Kunde antwortete einfach nicht mehr, wahrscheinlich hatten ihn die Zahlen abgeschreckt. Ich hoffe, dass die Finnen durch die astronomischen Zahlen endlich aufwachen und strengere Regeln einführen. Wir sind schon so weit, dass zum Beispiel die Stadt Espoo über die Zeitung ihre Einwohner*innen gebeten hat, sich zu überlegen, ob man auf eine medizinische Behandlung nicht doch im Augenblick verzichten könnte, angesichts der überlasteten Situation der Krankenhäuser und Gesundheitszentren. Letzten Endes denke ich, dass Transparenz am Ende belohnt wird. Am Ende der Corona-Krise werden Gäste lieber in Länder und in Urlaubssettings gehen, die für sie sicherer sind.

Bei mir können Sie sich sicher sein, dass ich immer die Maximalzahl der empfohlenen Impfungen so schnell wie nur irgend möglich in Anspruch nehmen werde. Und ich finde, dass jeder Anspruch hat, zu wissen, ob der eigene Frisör, Masseur oder eben auch die Fremdenführerin alles getan hat, um Risiken zu minimieren. Sobald wir Corona halbwegs im Griff haben, freue ich mich auf geimpfte und geboosterte Gäste.

Quelle: Alle Corona-Zahlen stammen von der Seite der größten finnischen Tageszeitung Helsinki Sanomat.

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