Diese Woche habe ich einen Gastblog eines Autors, den Sie vielleicht schon kennen, und wenn nicht, dann sollten Sie ihn kennenlernen! Sein bekanntestes Buch ist der humoristische, autobiografisch gefärbte Roman „Die spinnen, die Finnen. Mein Leben im hohen Norden.“ (Ullstein) Darüber hinaus waren der Autor und ich auch Kollegen, als wir 1991 beide für das Goethe-Institut als Deutschlehrer gearbeitet haben, ich in Rovaniemi und er in Tampere. Der Aufenthalt stellte sich als richtungsweisend für seine weitere Zukunft heraus, wie wir im folgenden Blog bemerken werden. Doch genug der Einleitung, hier kommt der Gastblog von Dieter Hermann Schmitz:
Helsinki kennt jeder! Klar, die Hauptstadt Finnlands. An dieser Stelle hören beim Durchschnittsdeutschen oder -österreicher oft schon die Kenntnisse finnischer Städtenamen auf. Manch einer kennt noch Åbo / Turku vom Kreuzworträtsel („Finnische Stadt mit drei Buchstaben: …“). Wer aber Tampere kennt, hat häufig einen persönlichen Bezug zum Lande, war als Tourist zu Besuch, geschäftlich unterwegs oder hat einen Austausch in Finnland verlebt, unterhält vielleicht verwandtschaftliche oder freundschaftliche Bande zu Einheimischen.
Sicher, die Leser dieses Blogs werden Tampere kennen und auf der Landkarte zuzuordnen wissen. Aber Finnland-Freunde – obschon ihre Zahl beständig wächst – sind immer noch ein kleines Grüppchen im Vergleich zu den vielen Italien-Liebhabern oder Bewunderern Großbritanniens.
Aber zurück zu Tampere und seinem (Un-)Bekanntheitsgrad. Lokalpatrioten behaupten beharrlich, Tampere sei die heimliche Hauptstadt. Das ist natürlich maßlos übertrieben, stimmt aber partiell: Denn Tampere nennt sich mit Stolz die Theaterhauptstadt Finnlands und ist in der Tat eine Stadt mit äußerst aktiven Bühnen, einem ausladenden Angebot und erstaunlich hohen Besucherzahlen (siehe dazu Visit Tampere).

Darüber hinaus ist Tampere als die finnische Hauptstadt der Rockmusik bekannt. Im Verhältnis zur Einwohnerzahl finden hier nicht nur die meisten Konzerte und Auftritte statt (siehe dazu Mitteilung der Urheberrechtsorganisation Teosto), sondern Tampere und Umgebung sind auch Heimstatt vieler finnischer Rockgrößen wie Juice Leskinen, Eppu Normaali, Pate Mustajärvi, Popeda u.v.a. Das wäre für deutsche Verhältnisse so, als kämen Udo Lindenberg, Rammstein, Die toten Hosen, Kraftwerk, BAP und Einstürzende Neubauten alle aus derselben Großstadt.
Allgemein bekannt ist auch, dass Tampere Finnlands Eishockey-Hauptstadt ist. Die beiden heimischen Profi-Vereine Ilves und Tappara haben deutlich mehr finnische Meisterschaften nach Tampere geholt, als jede andere Stadt für sich beanspruchen kann, und die Eishockey-Begeisterung der Einheimischen ist legendär (vgl. Sportkolumne der Aamulehti). Derzeit entsteht in Tampere auch die modernste Eissporthalle des Landes und soll Austragungsort der Eishockey-WM 2022 sein.
In einer düsteren Zukunftsvision von Schriftstellerin Sinikka Nopola, die in Finnland eher für unbeschwert-humoristische Texte und für ihre vielgeliebten Kinderbücher bekannt ist, muss Tampere in hundert Jahren notgedrungen sowieso die Rolle der Hauptstadt übernehmen, weil Helsinki wegen des Klimawandels und eines steigenden Meeresspiegels allmählich im Wasser versinken wird. (Hoffen wir, dass sie Unrecht behält.)
Persönlich halte ich Tampere noch aus anderen Gründen für hauptstadtwürdig: Tampere ist seit knapp einer Dekade Hauptstadt der ehrgeizigsten und ambitioniertesten Bauvorhaben in Finnland: von der schon erwähnten Eissport-Mehrzweckhalle (Fertigstellung Ende 2021), über neue Wohn- und Hoteltürme (z.B. Hotel Torni, Eröffnung 2014), Wohngebiete an künstlichen Seeufern (z.B. bei Ratinanranta), den Bau einer umweltfreundlichen Straßenbahn (Inbetriebnahme Sommer 2021), der Parkhöhle P-Hämppi im Felsengranit (Eröffnung 2012) und einer unterirdischen Umgehungsstraße, die den KFZ-Verkehr durch einen Tunnel führt (Tampereen rantatunneli, Öffnung 2016). Zum Leidwesen der Einwohner ist Tamperes Innenstadt daher seit Jahren eine Dauerbaustelle. Gleichzeitig haben sich die Verantwortlichen der Stadt auf die Fahnen geschrieben, bis 2030 klimaneutral sein zu wollen. (Hoffen wir, dass sie ihr Ziel erreichen.)

Und sie wollen – wenn schon nicht finnische Hauptstadt – so doch wenigstens für ein Jahr europäische Kulturhauptstadt werden, genauer gesagt im Jahr 2026. Mit Spannung erwartet man, ob Tampere in naher Zukunft den Zuschlag erhält. (Drücken wir ihnen die Daumen!)
Um auf Tamperes aktive Bautätigkeiten zurückzukommen: Ältere Bauvorhaben, die seinerzeit (auch) für teuer, überdimensioniert, überflüssig, umweltzerstörend oder größenwahnsinnig gehalten wurden, sind mittlerweile längst Teil der Stadtlandschaft und der liebgewonnenen Lokalkultur geworden. Dazu gehören der Aussichtsturm Näsinneula (1971, siehe Titelfoto des Blogs), der Vergnügungspark Särkänniemi (1975), die futuristische Stadtbibliothek Metso (1986), das Kongress- und Konzertzentrum Tampere Halle (Tampere talo, 1990) mitsamt neuem Hotel (2020) und viele andere. Tampere blüht, wächst und gedeiht, was sich auch im Anstieg seiner Einwohnerzahlen widerspiegelt, im Jahr 2020 rund 240.000 und damit für nordische Verhältnisse eine Metropole. Immerhin darin ist Tampere die unumstrittene Nummer 1: Tampere ist die größte Binnenstadt der nordischen Länder, also die größte Stadt im hohen Norden, die nicht am Meeresufer liegt.

Wenn man aber nach dem beliebtesten Ziel – gleichermaßen bei Einheimischen wie bei Stadtbesuchern – fragt, so trägt seit gefühlten Ewigkeiten eine (bauliche) Attraktion den Sieg davon, die schon mehr als ein Jahrhundert beseht: der altehrwürdige Aussichtsturm auf dem Landrücken von Pyynikki (Pyynikin näkötorni) mit seinem Café im Erdgeschoss, in dem es die besten Zuckerkringel (sokeroituja munkkirinkilöitä) der Welt gibt.

Vom Turm herab eröffnet sich ein Blick auf Tamperes wahre, größte und für menschliche Verhältnisse immerwährende (natürliche) Sehenswürdigkeit: seine Lage zwischen zwei großen Seen und die Nähe zu dunklen Nadelwäldern.

Zum guten Schluss noch eine weitere rekordverdächtige Besonderheit der Stadt: Im lokalen Dialekt braucht man bei einer morgendlichen Begrüßung nicht zu sagen „Guten Morgen! Wie geht’s? Schönes Wetter heute, nicht wahr?“, sondern es reicht ein knappes „Moro“ mit zwei kurzen, herausgebellten O’s und einem kräftig gerollten R dazwischen. Das reicht für Kontaktherstellung, Begrüßung, Beziehungspflege, Gedankenaustausch und Sympathiebekundung. Viel knapper geht es nicht. Die Bewohner der Stadt, dieser hemdsärmelige Menschenschlag mit seinen Eigenheiten, ist neben dem Dialekt zwar keine Sehenswürdigkeit, aber allemal eine Hörens- bzw. Erlebenswürdigkeit.
In diesem Sinne Tervetuloa Tampereelle!
Zum Verfasser des Beitrags:
Dieter Hermann Schmitz lebt seit vielen Jahren mit Familie und Vierbeinern bei Tampere und arbeitet an der hiesigen Universität. Er ist aktiv in der lokalen Kulturarbeit und Vorsitzender des Finnisch-Deutschen Vereins Tampere.
Schmitz ist Autor mehrerer Romane und Kinderbücher. Sein jüngstes Buch Finnisch verheiratet. Oder: Auf der Suche nach dem finnischsten aller Worte (Nov. 2020) beschreibt humoristisch das wechselvolle Alltagsleben in Tampere und den lustvollen Kampf mit der finnischen Sprache.
Weitere Infos zu seinen Büchern hier.

Danke, Claudia, für die netten einleitenden Worte …. ja, lange her, dass wir als Goethe-Lehrer nach Finnland kamen 🙂